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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: "Fachkräftemangel? Nie gehört" oder "Wie Unternehmen Jobbewerber vergraulen", von Benjamin Emonts, Alexander Hagelüken, Uwe Ritzer und Paulina Würminghausen
Eins vorab: Wenn Sie, lieber Lesende, der Meinung sind, dass seinen alles Phantasien, seien Sie versichert: die Realität ist manchmal noch schlimmer! Aber lesen Sie unseren Kommentar am Ende des Artikels.


Chefs halten vielversprechende Kandidaten hin, Personaler antworten nicht oder zerren Bewerber durch lange Vorstellungsrunden: Kann das in Zeiten des Fachkräftemangels wahr sein?

Josephine Becker müsste eigentlich heiß begehrt sein auf dem Arbeitsmarkt. Sie ist 27, hat einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften, einen Master in Wirtschaftspsychologie, Abschlussnote 1,5. Neben dem Studium hat sie viel gearbeitet. Werkstudentenstellen, Praktika, Nebenjobs. Kurz: Becker ist eine der gut ausgebildeten Fachkräfte, von denen es gerade durch alle Branchen hinweg heißt, dass es viel zu wenige von ihnen gibt.

Doch als sie sich nach ihrem Studium bei unzähligen Unternehmen beworben hatte, machte sie auch schlechte Erfahrungen. Sie wurde ignoriert, kleingeredet, vergessen, vertröstet. Josephine Becker, die eigentlich anders heißt, ist mit solchen Erfahrungen im Bewerbungsprozess nicht allein. Denn obwohl der Arbeitgebermarkt längst ein Arbeitnehmermarkt ist und sich viele Menschen ihre Jobs aussuchen können, scheint das bei manchen Unternehmen bislang nicht angekommen zu sein. Fachkräftemangel? Demografie? Nie gehört.

Bewerber in Deutschland benötigen viel Durchhaltevermögen: Zwei Monate und mehr können vom Zeitpunkt der Ausschreibung bis zur Besetzung vergehen. Bewerbungsprozesse dauern im Schnitt 28,8 Tage. Das zeigt eine Studie von Glassdoor, eine der weltweit größten Bewertungswebsites für Jobs und Recruiting.

Und die wenigen Bewerber werden auch noch lange hingehalten. Eine Befragung des Recruiting-Dienstleisters Softgarden zeigt zudem: Viele Firmen behandeln ihre Bewerber von oben herab.
Wie bei Becker. Das schlimmste, das ihr passiert sei, sei das Bewerbungsgespräch bei einer Personalvermittlung gewesen – also bei denen, die es theoretisch richtig machen müssten. Vor zwei Jahren war das, ihr erstes richtiges Bewerbungsgespräch. Es lief aus ihrer Sicht ziemlich gut. So gut, dass sie noch im Gespräch mündlich eine Zusage bekam, den Kollegen vorgestellt und ein wenig eingearbeitet wurde. Am Ende hieß es: Sie solle doch eine Nacht darüber schlafen und anschließend Bescheid geben. Das tat sie dann auch und sagte zu.

Von da an hörte sie nie wieder etwas von der Personalvermittlung. Auch nicht, als sie zwei Wochen später nachfragte. Oder drei Monate später noch mal. Bei Josephine Becker klingt das so: „Ich wurde geghostet.“ Das Unternehmen hat den Kontakt wortlos abgebrochen. Warum? Das weiß Becker bis heute nicht. „Das hat mich total verunsichert, das war ja das Erste, was mir im Bewerbungsverfahren passiert ist.“

Ein anderer Bewerber beschreibt es so: "Man kommt sich verarscht vor, auf gut Deutsch.“
Michael Obermaier, 31, erlebte Ähnliches. Der Maschinenbau-Ingenieur ging Anfang 2022 auf Jobsuche. Eine Schweizer Headhunting-Firma brachte ihn mit einem großen Ziegelhersteller zusammen. Das Live-Interview dort lief nach seinem Gefühl „ganz gut“. Doch dann hörte er wochenlang: nichts. Auf seine Mails antwortete niemand, ans Telefon ging niemand.

Erst sechs Wochen später erfuhr Obermaier über seinen Headhunter, dass er den Job nicht bekommt. Diese „Hängepartie“ habe ihn mental belastet, erzählt der Ingenieur. „Es war eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. Man kommt sich verarscht vor, auf gut Deutsch.“ Nicht mal die Fahrtkosten habe ihm das Unternehmen – wie eigentlich üblich – erstattet. „Ich habe bis heute nichts mehr von der Firma gehört.“

Eine skurrile Erfahrung machte er später noch bei einem Flugzeughersteller. In der ersten Bewerbungsrunde sollte er dort online Fragen beantworten und in eine Kamera sprechen, echte Gesprächspartner gab es nicht. „Das fühlte sich an, wie wenn ein Lehrer dich an der Tafel ausfragt – nur dass keine Reaktion kommt.“ Auch hier kam eine Absage. Erst nach zehn Bewerbungen fand Obermaier eine neue Stelle: Er berät nun weltweit Flughäfen bei Nachhaltigkeitsthemen.

Obermaier und Becker sind bei Weitem nicht allein mit ihren Erfahrungen. Laut dem Marktforschungsinstitut Trendence passiert es jedem zweiten Bewerber, dass er von einer Firma keine Antwort bekommt – und zwar auch in gesuchten Berufen. „Für Kandidaten ist das Ganze eine emotionale Sache“, sagt Stefan Wickenhäuser. Er berät mit seiner Firma Unternehmen dabei, wie sie Mitarbeiter stärker an sich binden können. Zeitweilig bewarb sich Wickenhäuser sogar selbst bei Unternehmen, um herauszufinden, was die Firmen falsch machen. Er schrieb 15 Testbewerbungen auf Positionen, die alle zu ihm gepasst hätten. Etwa auf eine Vertriebsleitung einer IT-Firma. Wenn er bei Absagen fragte, warum er abgelehnt wurde, kam selten eine Antwort. Einmal hieß es sogar: Die Absage war ein Versehen, eigentlich wollten wir Sie zum Gespräch einladen.

Warum es die Unternehmen weiterhin nicht hinbekommen, den Bewerbern eine Absage zu schicken? „Die Firmen denken, dass es noch ein Arbeitgebermarkt ist. Sie haben ihre internen Prozesse nicht verändert“, sagt Wickenhäuser. Unternehmen würden die Wichtigkeit von Mitarbeitern weiterhin nicht richtig einschätzen. „Entsprechend stiefmütterlich behandeln sie auch Personalabteilungen. Denen fehlt es oft an Etat, Kompetenz und Einfluss in der Firma.“ Dabei erreichten die offenen Stellen nach der Pandemie einen Rekordwert.

Manche Unternehmen würden Wickenhäuser zufolge auch warten, ob sie noch jemand Besseren finden. Oder sie formulierten die Stellenanzeigen zu allgemein. Dann würden sie entsprechend viele Bewerber bekommen und könnten sich schwerer entscheiden.

Einen tiefen Einblick in deutsche Personalabteilungen hat Thomas André Sola. Er ist seit 2022 Vorsitzender des Berufsverbands Apsco Deutschland, der Personaldienstleister vertritt. Er selbst hat als externer Recruiter jahrelang Fachkräfte im Auftrag von Personalabteilungen vermittelt. „Wir sehen bei unseren Kunden im Personalwesen oft eine Mischung aus Überforderung und Unterqualifizierung“, sagt Sola.

Die Personalabteilungen der Unternehmen arbeiteten oft an mehr als 50 vakanten Positionen, manchmal sogar an bis zu 100. Pro freier Stelle hätten sie teilweise nur fünf bis zehn Minuten am Tag, es fehle daher die Zeit für detaillierte und wertschätzende Feedbacks an Kandidaten. „Die Personalabteilungen leiden selbst auch unter Fachkräftemangel“, sagt Sola. Die Nachfrage sei im vergangenen Jahr sprunghaft gestiegen.

Dieses Ungleichgewicht zwischen Kandidaten und Personalern wirke sich auch auf die Qualität aus, so Sola. Häufig müsse ein und dieselbe Person Stellen in verschiedensten Bereichen des Unternehmens besetzen. Etwa in der Finanzabteilung, der Produktion, der Forschung, dem Sekretariat. Gleichzeitig komme es heute mehr denn je auf das Fachwissen der Bewerber statt auf formale Kriterien wie die Ausbildung und Arbeitserfahrung an. Um dieses Fachwissen richtig beurteilen zu können, fehle vielen Personalern aber das fachliche Verständnis für die einzelnen Stellen.

Wie unkompliziert und schnell ein Bewerbungsverfahren laufen kann, hat Holger Schuster erlebt. Mitte November schickte er die Bewerbung ab, im Dezember hatte er ein Videogespräch beim Unternehmen, am 2. Februar fing er dann den neuen Job an – allerdings in der Schweiz, nicht in Deutschland. „Die Firma hat sogar auf mein Angebot verzichtet, in die Schweiz zu reisen und mich persönlich vorzustellen“, erzählt Schuster, 57, der eigentlich anders heißt. So ist der promovierte Jurist und Fachanwalt aus Baden-Württemberg in der Schweiz gelandet – und hierzulande fehlt eine Fachkraft mehr.

In Deutschland habe er sich immer wieder bei Unternehmen und Kanzleien beworben, erzählt er. Dabei habe er umständliche und langwierige Auswahlverfahren erlebt. „In einer Firma haben sie mir erklärt, dass ich mit 45 Jahren zu alt bin“, schildert Schuster. Seitdem fragt er sich: „Warum haben die mich dann überhaupt zum Bewerbungsgespräch eingeladen? Mein Alter ergab sich bereits aus der schriftlichen Bewerbung.“

In einem anderen Fall habe ihm eine Hamburger Kanzlei seine Bewerbungsunterlagen samt Absage erst nach einem Jahr zugeschickt. Im Begleitbrief wurde er als Frau angesprochen und sein Nachname war falsch geschrieben. Als er sich darüber schriftlich bei der Kanzlei beschwerte, kam nach drei Wochen die Antwort: Man habe die eigenen Prozesse überprüft und könne bei sich keinen Fehler erkennen. Immerhin hat er jetzt einen Job, auch wenn er dafür auswandern musste.

Manche Firmen veranstalten in den Stellenanzeigen ein Wunschkonzert

Bei Becker, der 27-jährigen Berufsanfängerin, hat sich die Suche ebenfalls gelohnt. Mittlerweile arbeitet sie bei der Unternehmensberatung Deloitte. Jahresgehalt: 55 000 Euro. Doch erst kürzlich bot ihr ein Unternehmen ein unbezahltes Praktikum an. „Da ist mir echt die Kinnlade runterklappt“, sagt sie. Das Unternehmen wollte ihr das sogar als etwas verkaufen, dass auch „eine Chance“ für sie sei. Sie lehnte dankend ab. Auch unrealistische Anforderungen an die Bewerber seien aus ihrer Sicht problematisch. „Eine Person soll alles machen für ein absolut mittelmäßiges Gehalt, aber dafür mit vollem Einsatz“, sagt Becker.

Experte Wickenhäuser erklärt die hohen Ansprüche der Arbeitgeber so: „Wenn die Firma nicht weiß, wen sie für welche Aufgabe braucht, dann veranstaltet sie in den Stellenanzeigen ein Wunschkonzert.“ Doch Frauen bewerben sich oft nur auf Stellen, wenn das zu rund 80 Prozent ihren Vorstellungen entspricht. Das zeigen Studien. Wenn die Jobbezeichnung utopisch ist, bewerben sich viele gute potenzielle Kandidatinnen also gar nicht erst.

Das erste Unternehmen, das sich bei Becker nach der mündlichen Zusage nicht gemeldet hatte, habe sie zwar lange beschäftigt. Mittlerweile denke sie aber nicht mehr groß über solche Dinge nach: „Ich habe jetzt gemerkt, dass sich diese Ghostinggeschichte durch alle Bereiche zieht.“ Abhaken und weitermachen, denkt sie sich. Gerade bewirbt sie sich auf den nächsten Job. Bei ihrem jetzigen Arbeitgeber fühle sie sich manchmal nämlich unterfordert. Vor zwei Wochen hatte sie ein Gespräch bei einer Kommunikationsberatung. Bisher hat sie noch nichts davon gehört. Sie sei trotzdem optimistisch – noch.


Unser eigener Kommentar hierzu:

Häufig genug sind die Personalabteilungen unterbesetzt und -qualifiziert, überfordert und nicht frühzeitig eingebunden, das ist wahr. Wahr ist aber auch, dass die Fachabteilungen viel zu selten mit eingebunden werden bzw. glauben, mit der Übergabe des Problems an HR sei das Problem schon halb gelöst!

Tatsächlich kann der Mitarbeitergewinnungsprozess nur dann funktionieren, wenn alle beteiligten Abteilungen an einem Strang ziehen und sich eng und zügig abstimmen. Wenn aber erst gewartet wird, bis alle "Entscheider" an einem Tisch zusammenkommen um darüber zu entscheiden, welcher Interessent zum Gespräch eingeladen werden soll, dann ist es meistens schon zu spät.

Erst wenn die Geschäftsführung erkannt hat, dass Mitarbeiter die wichtigste Ressource im Unternehmen sind (was gern gepredigt, aber selten gelebt wird) und entsprechend handeln, erst dann wird sich die "Traumwelt", in der manche Unternehmenslenker leben, der Realität angepasst haben... aber bis dahin wird sich noch so manches Unternehmen eben wegen dieser Traumwelt von der Ralität verabschieden müssen!