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„Zehn verlorene Jahre“: Uwe Marx , Frankfurter Allgemeine Zeitung
Beim Berliner Treffen der industriellen Schlüsselbranche gibt es viel Einvernehmen – aber auch eine unangenehme Diskussion. Hat der Maschinenbau die Digitalisierung verschlafen?

Die deutschen Maschinenbauer nutzen ihre zweite nationale Bühne so gut sie können. Nachdem die Hannover Messe in den vergangenen Jahren entweder ausgefallen ist oder nur abgespeckt möglich war, nutzte die Schlüsselbranche der deutschen Industrie ihren Maschinenbaugipfel in Berlin zur Selbstvergewisserung und für leidlich gute Nachrichten. Zum Beispiel jener, dass an den Erwartungen für das Produktionsniveau allen Krisen zum Trotz nicht mehr herumgeschraubt werden muss.

Karl Haeusgen, Präsident des Branchenverbandes VDMA und auf dem mehrtägigen Gipfel Gastgeber von Bundeskanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und EU-Kommissar Valdis Dombrovkis, bestätigte das zu erwartende Plus von einem Prozent in diesem Jahr und zwei Prozent Rückgang für 2023. Die Botschaft: Es läuft zwar bescheiden, aber es wird immerhin nicht noch schlimmer.

In den ersten sieben Monaten dieses Jahres ist die Produktion im Maschinen- und Anlagenbau nach Angaben des Statistischen Bundesamtes um 0,8 Prozent gesunken. Aber es gebe eine „leichte Entspannung bei den Materialengpässen“, wie Haeusgen sagte. Gemeinsam mit den hohen Auftragsbeständen, die den Unternehmen Beschäftigung für rund ein Jahr sichern, könne das in das geschätzte Produktionswachstum für 2022 münden. Den Risiken durch den Ukraine-Krieg zum Trotz.
Diese Zuversicht deckt sich mit den Personalplänen vieler Unternehmen. Eine Umfrage des VDMA unter 640 seiner mehr als 3000 Mitgliedsunternehmen ergab, dass die Hälfte ihre Belegschaft im kommenden Jahr aufstocken wollen. 30 Prozent planen einen Stellenaufbau um bis zu 5 Prozent, knapp 20 Prozent wollen sogar noch mehr Beschäftigte einstellen. 15 Prozent der Unternehmen rechnen mit einem Stellenabbau, überwiegend bis zu 5 Prozent. „Wir gehen davon aus, dass die Maschinen- und Anlagenbauer alles daransetzen, qualifizierte Fachkräfte zu halten und neue einzustellen, denn gute Leute sind knapp und werden es bleiben“, sagte Haeusgen.

„Null Produktivitätsfortschritt nach zehn Jahren Industrie 4.0“

Abseits dieser Entwicklungen und der wohlwollenden Reden von Scholz und Dombrovkis am Dienstag wurde allerdings auch die Frage aufgeworfen, ob die Branche ihre technologische Expertise angemessen nutzt. In Michael Finkler war es ein Insider, der sich so deutlich positionierte, wie es für Vertreter des Verbandes selten ist. Finkler ist Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Pro-Alpha aus Weilerbach in Rheinland-Pfalz, die sich auf Software für den Mittelstand spezialisiert hat und mit mehr als 2000 Beschäftigten rund 270 Millionen Euro im Jahr umsetzt.

Außerdem ist er Vorstandsvorsitzender des VDMA-Fachverbands Software und Digitalisierung. Als solcher stellt er pointierte Thesen auf. Zum Beispiel: Es gebe „null Produktivitätsfortschritt nach zehn Jahren Industrie 4.0“; das heutige Produktivitätsniveau der Industrie sei auf dem Stand von 2011; die Produktivität im Maschinenbau sei trotz hoher Auslastung sogar gesunken; die breite Masse der Unternehmen sei kaum vorangekommen; statt zu organisieren und zu standardisieren sei „die Verschwendung digitalisiert“ worden.

Es wurde zwar oft davon gesprochen, neue, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, Mehrwert durch Digitalisierung zu schaffen, womöglich Plattformen auf die Beine zu stellen. Aber vielerorts ist davon nichts zu sehen. Finkler erkennt „zehn verlorene Jahre“. Deutschland habe „den Anschluss verloren in der industriellen Plattformökonomie“, während Konzerne wie Google, Microsoft oder Amazon den Aufbau von Industrie-Plattformen forcierten.

„Es geht mir nicht um Kritik“, sagte Finkler im Gespräch mit der F.A.Z. „Vielmehr liegt mir das Thema und der Verband mit seinen Mitgliedern sehr am Herzen. Aber es reicht nicht aus, dass wir einige Leuchttürme haben, aber das Thema Digitalisierung nicht in der Breite der Branche ankommt.“ Mit den Leuchttürmen sind Unternehmen wie Trumpf, Feste, Homag und wenige Mittelständler gemeint. Viel zu wenig. „Die Einstellung des Managements ist das Wichtigste, es ist keine Frage der Größe eines Unternehmens, sondern des Wollens“, sagt er. Wenn es um Digitalisierung gehe, könne der Mittelstand „durchaus noch einen Gang höher schalten“.

Dass sich IT-Konzerne mal den deutschen Maschinenbau vornehmen könnten, galt anfangs als große Bedrohung, mit den Jahren aber setzte sich die Einschätzung durch, dass Google, Amazon und Co. wohl doch nicht so kleinteilig dächten und nicht an Maschinendaten interessiert seien. Finkler skizziert sie Lage so. „Unternehmen wie Google oder Microsoft werden nicht die Rolle wie im Handel spielen, wo sie einen exklusiven Zugang zu Kunden haben – aber sie wollen auch im Maschinenbau ihr Stück vom Kuchen haben.“ Für den VDMA sprach der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Hartmut Rauen. Sogar der Kanzler habe die Maschinenbauer für ihre Fähigkeiten in der Digitalisierung gelobt. Sie sei Alltag. Und mit „Manufacturing-X“ werde eine Alternative zu den zentralen Plattformlösungen entwickelt.