NewsAktuelles

NZZ: «Man sieht den Jahrgang, und es wird abgewinkt»: Die schlechten Chancen der Ü-55-Generation am Arbeitsmarkt und die unrühmliche Rolle der HR-Abteilungen; Christin Severin
Der schweizer Blickwinkel: Trotz Fachkräftemangel haben ältere Arbeitnehmer Schwierigkeiten bei der Stellensuche. Die Unternehmen sollten erkennen, dass sie sich etwas entgehen lassen.

Die Ausgangslage ist paradox. Die Unternehmen beklagen sich seit Jahren über den Fachkräftemangel. Für gestandene Berufsleute sollte es ein Leichtes sein, bei Bedarf eine neue Stelle zu finden – würde man meinen.

Die Realität ist jedoch eine andere. «Es existiert eine zunehmende Polarisierung am Arbeitsmarkt», sagt Pascal Scheiwiller, CEO des Outplacement-Beraters von Rundstedt. Einerseits gibt es stark gesuchte Fachleute mit hoher Arbeitsmarktfähigkeit, anderseits gibt es Leute, die grosse Mühe haben, eine Stelle zu finden. Dabei geht die Schere bei den Älteren besonders stark auseinander.

30 Prozent der Arbeitnehmer sind 50 Jahre alt oder älter

Um die Renten nachhaltig zu sichern, müsste das Rentenalter erhöht werden, so wie es die Jungfreisinnigen mit ihrer Renteninitiative fordern. Doch damit die Rechnung aufgeht, müssen die Arbeitgeber die Älteren auch wollen. Akut ist die Frage auch wegen der demografischen Alterung. Bereits heute sind 30 Prozent der Arbeitnehmenden in der Schweiz (!) 50 Jahre alt und älter. Wenn sie ein Problem am Arbeitsmarkt haben, hat auch die Gesellschaft ein Problem.

Manche Ältere sind froh, wenn sie sich frühzeitig aus dem Arbeitsleben verabschieden oder kürzertreten können. Andere jedoch wollen und müssen weiterarbeiten. Solange man beim gleichen Arbeitgeber bleibt, funktioniert das meistens. Der Knackpunkt aber sind Stellenwechsel. Bei Ausschreibungen werden die Bewerbungen älterer Kandidaten oft schon aussortiert, bevor der Lebenslauf überhaupt angeschaut wird. Dabei spielen die Personalabteilungen häufig eine unrühmliche Rolle.

«Man muss nicht mit einer ehrlichen Antwort rechnen»

«Ich habe mich unlängst bei einem Branchenverband beworben und erhielt eine Absage», erzählt Eva Haller (Name geändert). Als Grund sei ihr mitgeteilt worden, man habe niemanden aus der Wirtschaft haben wollen, sondern eine Person mit Erfahrung im Non-Profit-Bereich. Später hörte sie, es sei doch jemand mit wirtschaftlichem Background eingestellt worden. Über eine Freundin ließ die 55-Jährige nachfragen, was bei der eingestellten Person anders sei. Die Antwort aus der Personalabteilung war unverblümt: ein Alter von 35 statt 55.

Die Personalabteilungen hüten sich allerdings davor, das Alter als Grund für eine Absage anzugeben. «Man muss nicht mit einer ehrlichen Antwort rechnen», so die Erfahrung von Haller.
«Bei der Bewerberauswahl drücken negative Klischees durch», bestätigt Michael Weber (Name geändert). «Man sieht den Jahrgang, und es wird abgewinkt», sagt der HR-Spezialist mit Schwerpunkt Ausbildung. Dabei kämen klassische Klischees zum Tragen: Ältere seien veränderungsresistent, könnten nicht mit hektischen Situationen umgehen und seien weniger aufnahmefähig.

Solche Annahmen entspringen einer falschen Vorstellung. Es gibt zwar Menschen, die so sind. Das hat aber weniger mit dem Alter als mit der Persönlichkeit zu tun. Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Ältere nicht generell innovationsfeindlicher seien als jüngere Mitarbeitende, sagt Hans Rupli, Präsident von Focus-50-plus, einer Plattform unter dem Patronat des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, der sich für die Zusammenarbeit zwischen den Generationen einsetzt.

Stereotype spiegeln unreflektierte Haltungen

Dennoch gibt es Vorurteile. «Wir stellen uns für die Position eine jüngere Person vor», erklärte unlängst ein HR-Angestellter gegenüber einem Mitarbeiter aus dem eigenen Unternehmen, der für einen Bekannten ein gutes Wort einlegen wollte.

Auf Nachfrage hieß es: «Ältere haben manchmal fixe Vorstellungen, wie etwas zu sein hat. Sie mögen kein Chaos. In diesem Job muss man zudem jüngere Menschen mögen und sie gut führen können.» Man möchte entgegnen: Gerade jemand mit Erfahrung behält in einer chaotischen Situation den Überblick und bleibt ruhig.

Warum sitzen ausgerechnet Personalverantwortliche, die psychologisch geschult sein sollten, solchen Stereotypen auf? «Weil es auch nur Menschen sind», meint der langjährige Ausbildungsexperte. Man mache zwar Trainings und Schulungen. «Aber wenn es drauf ankommt, drücken oft unreflektierte Meinungen und Haltungen durch.»

Die Kündigung von Älteren strapaziert das Gewissen

Eine weitere Herausforderung ist paradoxerweise das Wissen um die Schwierigkeiten Älterer, eine Stelle zu finden. Wenn der Arbeitgeber während der Probezeit feststellt, dass es nicht passt, kann er die Jüngeren schnell wieder auf die Straße stellen, bei den Älteren plagt jedoch das schlechte Gewissen. Um das zu vermeiden, werden zum Teil von Beginn weg Jüngere bevorzugt. Das wirkt dann wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

«Die besten Chancen hat man als Ü-55 bei kleineren Unternehmen ohne Abteilung Human Resources (HR), wo der Chef oder Fachabteilungen direkt einstellen», ist die Erfahrung einer Stellensuchenden.
Der Grund dafür: Die Personalabteilungen agieren oft nicht auf Augenhöhe mit den Fachabteilungen. «Der Bereichsleitende definiert die Anforderungen, die HR-Abteilung setzt um», sagt Pascal Scheiwiller. Wenn der Teamleiter eine Altersgrenze von beispielsweise 55 Jahren setzt, siebt das HR bei der Vorselektion entsprechend aus.

Digitalisierung macht Ausschreibungen zugänglicher

Die Schwierigkeiten sind auch darauf zurückzuführen, dass der Fachkräftemangel deutlich punktueller ist, als dies Klagen vieler Unternehmen vermuten lassen. Gleichzeitig hat die Digitalisierung bei den Job-Ausschreibungen den Stellenmarkt zugänglicher gemacht. Früher wurde in der lokalen Zeitung inseriert, heute ist mit der Personenfreizügigkeit ein EU-weiter Bewerbermarkt entstanden. Je grösser der Pool an Kandidaten, desto wählerischer können Unternehmen sein.
«Die Jobsuche ist schwieriger, wenn man spezialisiert ist und damit eine gewisse Einkommensstufe erreicht hat», lautet die Erfahrung eines Betroffenen. «Gerade in Führungsfunktionen konkurriert man bei Bewerbungen mit internen Aufsteigern», sagt ein anderer. Dazu kommt, dass im vergangenen Jahr gemäß dem Personalvermittler Adecco mit dem Abbau von Hierarchiestufen die Nachfrage nach Führungskräften spürbar gesunken ist.

Ältere Arbeitnehmer antizipieren dies, rechnen sich je nach Situation nur geringe Chancen aus und suchen nach Auswegen. Ein Teil nimmt den «Notausgang» über die Frühpensionierung. Eine andere Option ist, sich faute de mieux selbständig zu machen. Tatsächlich liegt die Selbständigkeitsquote bei den über 50-Jährigen mit 14,5 % leicht höher als diejenige von 13 % über alle Altersklassen.

Versteckte Arbeitslosigkeit bei Freelancern

Doch wie gravierend ist die Situation? Im Segment der 50- bis 64-Jährigen liegt die Arbeitslosenquote mit 2,3 % leicht unter dem Durchschnitt von derzeit 2,5 % über alle Altersklassen. Unterteilt man feiner, zeigt sich, dass zwar junge Ältere unterdurchschnittlich oft erwerbslos sind, es bei den 60- bis 64-Jährigen aber einen Anstieg auf 2,9 % gibt. Das zeigt: Mit 50 Jahren ist es noch gut möglich, eine neue Stelle zu finden, mit 60 Jahren ist die Luft dünner.

Leichter Anstieg der Erwerbslosigkeit kurz vor Pensionierung

Erfasst sind hier allerdings weder die Frühpensionierten noch unfreiwillige und unterbeschäftigte Selbständige noch Ausgesteuerte und andere Stellensuchende, die nicht bei den Regionalen Arbeitsvermittlungen registriert sind.

Pascal Scheiwiller verweist deshalb auf die Arbeitsmangelquote von gerundet 9 %. Sie setzt sich zusammen aus der Erwerbslosenquote von 4,2 % und der Unterbeschäftigungsquote von 4,7 %. Als unterbeschäftigt gilt, wer gerne mehr arbeiten würde, aber keine entsprechende Beschäftigung findet. «Das sind eben genau auch die Ü-55er, die keine feste Stelle finden und sich als Freelancer mit kleinen Aufträgen und Projekten durchschlagen.» Die Beteiligung am Arbeitsleben sinkt kurz vor dem Pensionierungsalter rapide

Gelassene Hartnäckigkeit zahlt sich aus

Jammern bringt am Ende nichts, aber jegliche Schwierigkeiten abzustreiten mit dem Verweis auf die tiefe Arbeitslosenquote auch nicht. Auf individueller Ebene zielführend ist wohl eine gelassene Hartnäckigkeit. Ein 53-Jähriger, der unlängst eine neue Stelle als CEO eines KMU angetreten hat, bewahrte sich diese während seiner mehrmonatigen Stellensuche. «Wenn es passt, dann passt es. Die Idee, dass das Alter gegen mich sprechen könnte, habe ich mir gar nicht einreden lassen.»

Hoffnung verbreitet auch Hans Rupli, Präsident von Focus-50-plus. «Wir sind derzeit in einer Übergangsphase», sagt er. Einige, aber längst nicht alle Unternehmen hätten realisiert, dass man aufgrund der demografischen Entwicklung nicht nur auf Jüngere setzen könne. Hier werde langfristig ein Umdenken stattfinden. Das ist auch nötig, damit nicht der Hinweis auf die Probleme der älteren Arbeitnehmer die Bestrebungen untergräbt, das Rentenalter zu erhöhen. Die Älteren müssten ihrerseits darauf achten, sich ihre Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten, unter anderem, indem sie ihr Fachwissen à jour halten.

Ältere sollten ihre Vorteile stärker ausspielen

Erfahrungen aus dem europäischen Ausland zeigen, dass ein höheres Rentenalter nicht mit einer höheren Arbeitslosigkeit im Alter einhergehen muss. Weil der Zeithorizont bis zur Pensionierung ausgeweitet wird, lohnt es sich für beide Seiten, länger in die Kompetenzen zu investieren.

Arbeitsmarktexperte Pascal Scheiwiller empfiehlt den älteren Arbeitnehmenden, ihre Vorteile stärker auszuspielen. «Ein Älterer kommt meistens, um zu bleiben, und nicht nur, um sich die Sporen für den nächsten Karriereschritt abzuverdienen.» Die Älteren gelten in der Tendenz als loyaler, die Jüngeren als anspruchsvoller. Der Ansatz sollte deshalb sein, den Personalabteilungen bzw. den Unternehmen klarzumachen, dass sie sich gute Leute entgehen lassen, wenn sie die Bewerbungen von Älteren vorschnell aussortieren. Dabei liegt es in der Verantwortung der Personalabteilungen, die Vorgaben aus den Geschäftsbereichen nicht nur umzusetzen, sondern auch zu hinterfragen.